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Titel
Geteiltes Land, geteiltes Leid. Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen von 1945 bis zur Gegenwart


Autor(en)
Margara, Andreas
Erschienen
Anzahl Seiten
319 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bösch, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die deutsche und die vietnamesische Geschichte sind vielfältig verbunden. Da beide Länder im Kalten Krieg lange geteilt waren, entstanden in der Systemkonkurrenz doppelte Beziehungen: einerseits zwischen der DDR und Nordvietnam, andererseits zwischen der Bundesrepublik und Südvietnam. Der Vietnamkrieg intensivierte und verkomplizierte diese Verbindungen, da sich nun im Westen die Neue Linke mit dem kommunistischen Norden solidarisch erklärte. Neben Handel und Hilfe prägte die Migration aus Vietnam das Verhältnis: Während die DDR temporär vietnamesische Vertragsarbeiter:innen beschäftigte, nahm die Bundesrepublik zahlreiche Flüchtlinge aus Vietnam nach dem dortigen Krieg auf. Trotz dieser vielfältigen Bezüge lag bislang noch keine Monographie vor, die die verflochtenen deutsch-vietnamesischen Beziehungen nach 1945 untersuchte. Generell sind Studien zur deutsch-vietnamesischen Geschichte jenseits des Vietnamkrieges, der Vertragsarbeit in der DDR und einigen Artikeln zu den „Boat People“ bisher rar geblieben.1

Das Buch des Historikers und Journalisten Andreas Margara hat insofern einen gewissen Pioniercharakter. Dass es sich dabei um eine Dissertation handelt, merkt man dem Werk kaum an. Sprachlich ist es leicht lesbar verfasst, inhaltlich gibt es einen breiten Überblick zu den Vietnam-Kontakten der DDR, der Bonner Republik und des vereinten Deutschlands. Einzelne selbst recherchierte Fallstudien werden mit Kapiteln verbunden, die eher auf der veröffentlichten Literatur basieren. Regierungsakten, insbesondere des Auswärtigen Amts, Medienberichte und Interviews mit Zeitzeug:innen bilden die wichtigsten Quellen. Vietnamesischsprachige Quellen oder Literatur wurden nicht einbezogen.

Originell ist besonders das erste Kapitel zu den Jahren 1945–1954, das den Einsatz von Deutschen in der französischen Fremdenlegion in Vietnam behandelt. In Indochina stammte immerhin die Hälfte der Legionäre aus dem deutschsprachigen Raum. 1.325 von ihnen wechselten im Krieg die Front und wurden anschließend in Nordvietnam hofiert. Auch die DDR propagierte die Konversion und nahm 763 dieser Überläufer auf, von denen dann jedoch wieder knapp die Hälfte in den Westen ging. Ebenso eigenständig recherchiert ist der Abschnitt zur bundesdeutsch-südvietnamesischen Annäherung. Die seit 1955 eingeleiteten diplomatischen Beziehungen gingen mit einer intensiven bundesdeutschen Förderung von Bildungs-, Medizin- und Sozialeinrichtungen einher. Interesse an Kautschuk aus Vietnam trieb diese Softpower-Politik an.

Bereits recht gut erforscht, aber nicht minder wichtig sind die Abschnitte zum Vietnamkrieg im engeren Sinne. Statt der von der US-Regierung geforderten Bundeswehrsoldaten schickte die Bundesregierung 1966 das Lazarettschiff „Helgoland“, das bereits im ersten Jahr 11.000 Verletzte behandelte. Eher ausgespart wird von Margara die humanitäre Hilfe der 1960er-Jahre, die Michael Vössing bereits untersucht hat.2 Neu erscheinen mir die Erkenntnisse zu den verschleppten bundesdeutschen Ärzten und Sanitätern, von denen einzelne in den nordvietnamesischen Lagern und Gefängnissen starben. Keine neuen Befunde gibt es dazu, ob westdeutsche Firmen tatsächlich bei der Produktion von „Agent Orange“ mitwirkten. Die Vietnamproteste der „68er“, die auch Spenden zum Kauf von Waffen für den Norden sammelten, fasst Margara in Anlehnung an Wilfried Mausbach als eine Projektion, die auf nicht aufgearbeiteten NS-Verbrechen beruhte.3 Ebenso betont er die Übertragung des perzipierten Kampfes in Vietnam auf den Linksterrorismus.

Im Anschluss an bisherige Studien zur Vietnampolitik der DDR zeigt Margara, wie der ostdeutsche Staat sich seit 1955 zu einem wichtigen Partner Nordvietnams entwickelte, sei es durch Hilfszahlungen, Handel oder die Ausbildung von rund 20.000 Vietnames:innen in der DDR. Über die bekannten Solidaritätskampagnen im Krieg, die Margara zu Recht nicht nur als von oben verordnete Propaganda fasst, ließ die SED darüber hinaus Romane aus Vietnam übersetzen, zeigte Fotoausstellungen und baute in Vietnam die kommunikative Infrastruktur aus, etwa Fernsprechanlagen und Druckereien. Auch militärische Unterstützung gewährte sie. Besonders interessant sind hier die Ausführungen zum DDR-Städtebau im vietnamesischen Vinh, wo eine Plattenbausiedlung nach ostdeutschen Plänen entstand. Die SED erhoffte sich dafür vor allem Kaffeelieferungen aus Vietnam.

Die Kapitel zur vietnamesischen „doppelten Migration“ in die DDR und die Bundesrepublik (1973–1989) basieren überwiegend auf der vorliegenden Literatur. Bei den Vertragsarbeiter:innen in der DDR akzentuiert Margara sehr stark deren soziale Ausgrenzung; dem steht etwas entgegen, dass sie sich selbst später meist positiv an die Zeit bis 1989 erinnern. Bei der Aufnahme der Flüchtlinge aus Vietnam in der Bundesrepublik wird vor allem das Engagement von Rupert Neudeck und seiner „Cap Anamur“ dargestellt, auch wenn nur ein Teil der Flüchtlinge über dieses Rettungsschiff in die Bundesrepublik kam. Für das vereinigte Deutschland stellt Margara den neuen offenen Rassismus und die Abschiebung der Vertragsarbeiter:innen heraus; bereits bis 1991 hatten 34.500 Vietnames:innen Deutschland verlassen. Erst 1997 entstand eine gewisse Legalisierung des Aufenthaltes für jene, die unter prekären Umständen verblieben, was der Autor aber nicht mehr genauer ausführt. Zugleich betont er die neue Annäherung der Bundesregierung an die kommunistische Diktatur, die wirtschaftlich zu boomen begann.

Die durchweg deutsche Perspektive kann Margara leider nur an jenen wenigen Stellen brechen, wo er Stimmen von Zeitzeug:innen einbezieht. Insgesamt folgt das Buch mehr der politischen Ereignisgeschichte als größeren Fragen. Da es eher einen breiten Überblick bietet, fällt das Fazit leider entsprechend knapp aus. Dennoch handelt es sich um eine gut lesbare, fundierte Einführung, die vorliegende deutsche Forschungen bündelt und um einige interessante Fallstudien bereichert. Fotos von Schauplätzen und persönliche Impressionen erhöhen die Anschaulichkeit des Buches, das zudem oft Bezüge zum heutigen Umgang mit Migration aufweist.

Anmerkungen:
1 Vgl. bislang etwa zur Vertragsarbeit: Karin Weiss / Mike Dennis (Hrsg.), Erfolg in der Nische? Die Vietnamesen in der DDR und in Ostdeutschland, Münster 2005. Zur Migration: Bengü Kocatürk-Schuster u.a. (Hrsg.), UnSichtbar. Vietnamesisch-Deutsche Wirklichkeiten, Köln 2017. Zur Bundesrepublik: Michael Vössing, Humanitäre Hilfe und Interessenpolitik. Westdeutsches Engagement für Vietnam in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen 2018; dazu meine Rezension in: H-Soz-Kult, 05.04.2019, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-27575 (15.04.2023); zu den Boat People: Frank Bösch, Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann, München 2019, S. 187–228; ders., Engagement für Flüchtlinge. Die Aufnahme vietnamesischer „Boat People“ in der Bundesrepublik, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 14 (2017), S. 13–40, https://zeithistorische-forschungen.de/1-2017/5447 (15.04.2023).
2 Vössing, Humanitäre Hilfe.
3 Wilfried Mausbach, Auschwitz und Vietnam: West German Protest against America’s War during the 1960s, in: Andreas W. Daum / Lloyd C. Gardner / Wilfried Mausbach (Hrsg.), America, the Vietnam War and the World. Comparative and International Perspectives, Cambridge 2003, S. 279–298.

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